Der Händler: Ich aber sage: Nein, wenn die Kulis billiger sind als der Reis, kann ich einen neuen Kuli nehmen. Ist das richtiger?

Bertolt Brecht, Die Maßnahme

Ein Ausbruch des Coronavirus zwingt etwa 7.000 Menschen im Kreis Gütersloh in Quarantäne. Schulen und Kitas müssen kurz nach der Wiederöffnung aufgrund der immer weiter steigenden Zahl der Infizierten vorerst wieder geschlossen werden. Der Grund hierfür ist ein Coronavirus-Ausbruch im Schlachtereibetrieb Tönnies in Rheda-Weidenbrück. Rund 730 Angestellte der Fleischfabrik wurden mittlerweile positiv auf COVID-19 getestet und ab Freitag, den 19.06, sollen etwa 25 Soldaten der Bundeswehr in Gütersloh eingesetzt werden, um bei den Tests unterstützen zu können.

„Wir können uns nur entschuldigen“, so ein Pressesprecher des Konzerns zur akuten Lage. Unternehmenschef Clemens Tönnies versichert, ohne jedoch persönlich zur Pressemeldung zu erscheinen: „Die Sicherheit und der Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht an erster Stelle.“ Für kritische Reaktionen sorgte die abweisende Antwort des Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens Armin Laschet (CDU) auf die Frage, ob dieser Ausbruch mit den aktuellen Lockerungen in NRW in Verbindung zu bringen sei: „Das sagt überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt“ entgegnete der Ministerpräsident laut einem Bericht des Tagesspiegels. Laschet äußerte außerdem, dass die aktuellen Coronafälle überhaupt nichts mit Lockerungen zu tun hätten, sondern mit den Arbeitsbedingungen und der Unterbringung von Arbeitern, womit er der Wahrheit immerhin etwas näherkommt.

Tatsache ist allerdings, dass dieser Ausbruch des Coronavirus lediglich ans Licht bringt, was in der Fleischindustrie gang und gäbe ist: Für das billige Fleisch und die günstige Wurst im Supermarkt zahlen nicht nur Tiere mit ihrem Leben (weltweit über 70 Milliarden! (1)) und mit unvorstellbaren Leiden. Nein, für den deutschen Fleischkonsum zahlen auch unzählige Menschen, ein Großteil Leiharbeiter aus Rumänien und Bulgarien, mit ihrer Sicherheit, mit ihrer Gesundheit und mitunter sogar mit ihrem Leben. Ihre Arbeitsbedingungen sind katastrophal und menschenverachtend. In den Unterkünften, in die die Arbeiter hineingepfercht werden, häufen sich hygienische Missstände, Baufälligkeiten und sonstige Widrigkeiten, die dafür sorgen, dass die Fleischkonzerne niedrigere Kosten und höhere Profite haben. „Die Gesundheit der Beschäftigten wird für die Profite der Fleischbarone aufs Spiel gesetzt“, meint Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen, und es ist meines Erachtens unmöglich, dem zu widersprechen. Der Ausbruch in Rheda-Weidenbrück ist schließlich nicht der erste derartige Vorfall in einer Fleischfabrik, im Mai gab es bereits einen Ausbruch des Coronavirus im Betrieb Westfleisch. Wenn es darum geht, bis zu 30.000 Schweine täglich (!) zu schlachten (2), kann man sich eben nicht um solche sensiblen Kleinigkeiten, wie das Wohlergehen der unterbezahlten Arbeiter (ganz zu schweigen von dem Wohlergehen der Tiere), kümmern. Schließlich haben sie keine andere Wahl. Beklagt sich einer, wird er hochkant rausgeschmissen, es gibt ja schließlich genügend andere. Der Leiharbeiter aus Rumänien oder Bulgarien ist entbehrlich.

Jennifer Dillard plädiert in ihrem Artikel „A Slaughterhouse Nightmare“, der 2008 im Georgetown Journal on Poverty Law and Policy veröffentlicht wurde, dafür, die Arbeit an Schlachthöfen in den USA als extrem gefährliche („ultrahazardous“) Tätigkeit für die psychische Gesundheit der Arbeitnehmer einzustufen (3). Die Arbeiter seien schließlich nicht nur den physischen Gefahren ihrer Tätigkeit ausgesetzt – bei dem unmenschlichen Arbeitsrhythmus kommt es häufig zu schweren Verletzungen z. B.  mit scharfen Klingen – sondern auch einer immensen psychischen Belastung. Dazu zählt der Stress, der mit dem hohen Workload und dem schnellen Arbeitsrhythmus einhergeht, aber auch die hochtraumatischen Erlebnisse, die den Mitarbeitern von Tag zu Tag widerfahren (4).

Alles was ich hier schreibe ist auch jenseits einer solchen Notlage, wie wir sie durch Covid-19 derzeit erleben, relevant. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Klimawandels ist es unbestreitbar, dass der massenhafte Konsum von Fleisch und die niedrigen Fleischpreise mit dem Wohlergehen von Tieren, Menschen und unserer Umwelt vollkommen unvereinbar sind. Die Probleme, die durch die Fleischindustrie verursacht und erschwert werden, reichen in alle möglichen Bereiche hinein: von der Rodung des Regenwalds im Amazonas, über die Überbelastung des Gesundheitssystems in den USA, Luftverschmutzung und Wasserverbrauch, bis zu einem Corona-Ausbruch in NRW, der außer den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen wahrscheinlich auch noch mehrere Tote mit sich bringen wird. Man kann nur hoffen, dass die aktuelle Lage dazu führt, dass sich ein Großteil der deutschen Verbraucher künftig mehr Gedanken über ihr Einkaufsverhalten machen. Für viele gehören die künstlich verbilligten Tierprodukte zu den wenigen zugänglichen Lebensmitteln, womit klar werden sollte, wie hoffnungslos verstrickt die Lage rund um die Fleischindustrie und den Konsum von Tierprodukten wirklich ist.

Anmerkungen:

1. Die Zahl der weltweit getöteten für den jährlichen Fleischkonsum Tiere kann sehr stark variieren. Die meisten Zählungen berücksichtigen nicht das Fischereiwesen, da es vollkommen illusorisch ist, einzelne Lebewesen zu zählen; Fisch und Meeresfrüchte werden in Tonnen gezählt. Das World Economic Forum zählt 50 Milliarden Hühner (männliche Küken, die Eierproduktion nicht produktiv sind und kurz nach der Geburt ausgesondert werden, nicht mitgezählt) und zitiert weiter Zahlen der UN Food and Agriculture Organization (2017): etwa 1,5 Milliarden Schweine, 300 Millionen Rinder und Kühe, über 500 Millionen Schafe u.v.m.

2. Vgl. Stephan Rechlin, Rheda-Wiedenbrück: Konzern verarbeitet künftig 30.000 Schweine pro Tag. Tönnies darf noch mehr schlachten, in: Westfalen-Blatt, 04.12.2018., [online] https://www.westfalen-blatt.de/OWL/Kreis-Guetersloh/Guetersloh/3571621-Rheda-Wiedenbrueck-Konzern-verarbeitet-kuenftig-30.000-Schweine-pro-Tag-Toennies-darf-noch-mehr-schlachten

3. Jennifer Dillard, A Slaughterhouse Nightmare: Psychological Harm Suffered by Slaughterhouse Employees and the Possibility of Redress through Legal Reform, in: Georgetown Journal on Poverty Law & Policy, Vol. 15 (2008), No. 2, S. 391-408, hier: S. 407.

4. Vgl. Ebd. S. 398-403.

Quellen:

Corona-Ausbruch bei Tönnies: „Gesundheit wird für Profite der Fleischbarone aufs Spiel gesetzt“, in Frankfürter Allgemeine, 17.06.2020, [online] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kritik-nach-grossem-corona-ausbruch-in-fleischfabrik-toennies-16820166.html (Zugriff am 18.06.2020)

Coronavirus-Ausbruch in Gütersloh. Mittlerweile 730 Infizierte bei Tönnies – nun soll die Bundeswehr helfen, in: Der Tagesspiegel, 18.06.2020, [online] https://www.tagesspiegel.de/wissen/coronavirus-ausbruch-in-guetersloh-mittlerweile-730-infizierte-bei-toennies-nun-soll-die-bundeswehr-helfen/25930026.html (Zugriff am 19.06.2020)

Stephan Rechlin, Rheda-Wiedenbrück: Konzern verarbeitet künftig 30.000 Schweine pro Tag.
Tönnies darf noch mehr schlachten, in: Westfalen-Blatt, 04.12.2018., [online] https://www.westfalen-blatt.de/OWL/Kreis-Guetersloh/Guetersloh/3571621-Rheda-Wiedenbrueck-Konzern-verarbeitet-kuenftig-30.000-Schweine-pro-Tag-Toennies-darf-noch-mehr-schlachten (Zugrif am 19.06.2020)

Katrin Terpitz, Clemens und Robert Tönnies Der Corona-Ausbruch heizt einen jahrelangen Streit in der Tönnies-Familie neu an, in: Handelsblatt, 18.06.2020 [online] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/familienunternehmer/clemens-und-robert-toennies-der-corona-ausbruch-heizt-einen-jahrelangen-streit-in-der-toennies-familie-neu-an/25930108.html (Zugriff am 18.06.2020)

Alex Thornton, This is how many animals we eat each year, in: World Economic Forum, 08.02.2019, [online] https://www.weforum.org/agenda/2019/02/chart-of-the-day-this-is-how-many-animals-we-eat-each-year/ (Zugriff am 19.06.2020)

Jennifer Dillard, A Slaughterhouse Nightmare: Psychological Harm Suffered by Slaughterhouse Employees and the Possibility of Redress through Legal Reform, in: Georgetown Journal on Poverty Law & Policy, Vol. 15 (2008), No. 2, S. 391-408, hier: S. 407.

Weiterführende Lektüre

Sebastian Leber, Das Schweinesystem: Was Insider über die Ausbeutung in der Fleischindustrie verraten, in: Der Tagesspiegel, 19.05.2020, [online] https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/das-schweinesystem-was-insider-ueber-die-ausbeutung-in-der-fleischindustrie-verraten/25840872.html

Grant Lingel, Profit Over People: The Meat Industry’s Exploitation of Vulnerable Workers, in: Sentient Media, 30.04.2020, [online] https://sentientmedia.org/profit-over-people-the-meat-industrys-exploitation-of-vulnerable-workers/

Jessica H. Leibler; Patricia A. Janulewicz; Melissa J. Perry, Prevalence of serious psychological distress among slaughterhouse workers at a United States beef packing plant, in: Work, Vol. 57 (2017) no. 1, S. 105-109. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28506017/

Slaughterhouse Workers, in: Food Empowerment Project, [online] https://foodispower.org/human-labor-slavery/slaughterhouse-workers/

Merlind Theile, “Sie übernehmen für die Arbeitskräfte praktisch keine Verantwortung”, in: Zeit Online, 12.05.2020, [online] https://www.zeit.de/politik/2020-05/fleischindustrie-corona-ansteckungsgefahr-arbeitsverhaeltnisse-ausbeutung

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