Für einen Moment möchte ich die Frage, ob es denn überhaupt verwerflich ist, wenn kulturelle Transfers und Austauschprozesse stattfinden, beiseitelassen. Vielmehr werde ich mich mit dem Begriff Kulturelle Aneignung“  an sich auseinandersetzen und einige Probleme beschreiben, die dieser Begriff meines Erachtens mit sich trägt. Bevor ein Konzept sinnvoll diskutiert werden kann, muss klar sein, was es beinhaltet.

Grenzziehung

Das erste Problem, das ich bei dem Begriff „kulturelle Aneignung“ sehe, ist ein Problem der Grenzen. Spricht man davon, dass sich eine Kulturgruppe (oder ein Individuum) kulturelles Gut einer anderen Gruppe aneignet, impliziert dies zwingend eine Grenzziehung. Grenzen sind allerdings nur dann hilfreich, wenn sie unterschiedliche Bereiche deutlich voneinander abtrennen. Wo jedoch liegt die Grenze zwischen Kulturgruppe A und Kulturgruppe B? Eine starre und klar definierte Menge, die dem kulturellen Erbe einer bestimmten Gruppe zugesprochen wird, lässt sich wohl an keinem Beispiel zeigen. Wo endet die Kultur Deutschlands und wo beginnt die Kultur der Niederlande? Einige Aspekte mag man der einen oder anderen Gruppe zuordnen können, aber eine gewisse Überschneidung wird wohl immer zu finden sein.

Inwieweit lässt sich überhaupt von einer „deutschen Kultur“ oder einer „niederländischen Kultur“ sprechen? Das untergeordnete Problem, auf welches ich hier zu sprechen komme, ist, wie fein unterschiedliche Kulturgruppen voneinander abgetrennt werden müssten. Sicherlich unterscheidet sich die Kultur Bayerns in vielen Aspekten von der Schleswig-Holsteins. Wie sinnvoll ist es dann, von einer gesamtdeutschen Kultur zu sprechen, wenn allein innerhalb nationaler Grenzen so stark ausgeprägte Unterschiede bestehen?

Es fiele mir beispielsweise schwer, von einer gesamtbrasilianischen Kultur zu sprechen. Klar, einige Gemeinsamkeiten werden sich schon finden lassen, aber in einem Land, wo Portugiesen, Deutsche, Italiener, Nachfahren aus vielen afrikanischen Ländern und indigenen Stämmen (um nur einige zu nennen) ihre Spuren hinterlassen haben, wird es nicht weiter verwunderlich sein, dass von Region zu Region sehr unterschiedliche kulturelle Prägungen sichtbar werden, die sich darüber hinaus noch überlappen. Ein flüchtiger Blick in die Küche Brasiliens reicht, um festzustellen, dass je nach Region unter anderem afrikanische, indigene und portugiesische Einflüsse sichtbar werden. Acarajé ist ein beliebtes Streetfood im Nordosten des Landes und ein exzellentes Beispiel für die afro-brasilianische Küche. Die als Churrasco betitelte Fleischorgie lässt sich in die iberische Halbinsel zurückverfolgen und ist heutzutage vor allem im Süden Brasiliens, in Argentinien, Uruguay und Paraguay beliebt.  Die Feijoada, das brasilianische Gericht schlechthin, hat seinen Ursprung im Norden Portugals.

Problematische Gleichsetzung von Kultur und Ethnizität

Das darauffolgende Probem ergibt sich meines Erachtens bei dem Versuch, diese kulturellen Grenzen zu ziehen. Ich sehe oft, dass kulturelle Zugehörigkeit mit Ethnizität gleichgesetzt wird. Einen gravierenden Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien sehe ich jedoch darin, dass Ethnizität angeboren ist und kulturelle Zugehörigkeit auf Partizipation beruht. Um einer bestimmten kulturellen Gruppe anzugehören, wird vorausgesetzt, dass man an bestimmten kulturellen Praktiken, Ritualen, Gewohnheiten etc. teilnimmt.

Ich bin zum Beispiel in Rio Grande do Sul (im Süden Brasiliens) aufgewachsen und bin durch meine Mutter ein halber Brasilianer, aber mit den kulturellen Gepflogenheiten der Gauchos habe ich wenig bis gar nichts am Hut. Meine Mutter ist in Rio de Janeiro geboren und aufgewachsen aber auch der dortigen Kultur sehe ich mich als nicht zugehörig. Bin ich dennoch im Recht, an kulturellem Gut der beiden Regionen teilzuhaben, nur weil mich Blutsbanden mit ihnen verbinden? Von der äußerst vielfältigen Kultur Brasiliens picke ich mir vielmehr einzelne Aspekte heraus, die mir zusagen wie beispielsweise klassische brasilianische Gitarrenmusik, Literatur und einige Drinks. Ich würde aber nicht behaupten wollen, dass ich dem „brasilianischen“ (und noch viel weniger einem engeren) Kulturkreis angehöre.

Reduktion auf Hautfarbe

Ein weitaus schlimmerer Aspekt dieser fälschlichen Gleichsetzung von Ethnizität und kultureller Identität sehe ich allerdings darin, dass viele Diskussionspunkte auf die Hautfarbe reduziert werden: eine Person „darf“ keine Dreadlocks tragen, weil sie weiß ist. Als ich meine Bob-Marley-Phase hatte, wurde ich als Mulatte (oder halbschwarzer, brauner; welche Bezeichnung auch immer euch am wenigsten abschreckt) niemals dafür verurteilt, dass ich die Haar- und Kleidertracht trug, die mit einer bestimmten kulturellen Gruppe in Verbindung gebracht wird und Reggae-Musik hörte. Niemand hat mich dafür verurteilt, dass ich mir beliebige Aspekte einer kulturellen Identität herauspickte, mit der ich ansonsten gar nichts zu tun hatte. Würde einer Person mit weißer Hautfarbe derselbe Freiraum gewährt werden? Ein Schwarzer könnte mit einem sudanesischen Gewand herumlaufen, ohne Probleme zu bekommen. Oder würde man ihn etwa verdächtigen, einer nigerianischen Kulturgruppe anzugehören und nicht einer sudanesischen?

Was gilt überhaupt als Kulturelle Aneignung?

Das dritte Problem ist ein inhaltliches. Was alles zählt denn überhaupt zu Kultur und welche Praktiken lassen sich als „kulturelle Aneignung“ bezeichnen? Man hört oft, dass man zwischen „cultural appreciation“ und „cultural appropriation“ unterscheiden müsse. Wo der Unterschied zwischen diesen Konzepten liegt, ist mir noch nicht klar geworden.

Darf man Hip-Hop hören, tanzen und komponieren oder ist das einer bestimmten (kulturellen/ethnischen) Gruppe vorbehalten? Darf man ostasiatisches Teegeschirr sammeln, sich für Teezeremonien begeistern und diese zu Hause nachahmen oder betreibt man damit schon Kulturdiebstahl? Was Restaurants in São Paulo mit japanischer Küche machen, würde ich als pervers bezeichnen (beispielsweise frittiertes Sushi mit Cream Cheese). Aber ist das eine legitime Anpassung der Küche an den brasilianischen Geschmack oder einfach nur „Diebstahl“? Dreadlocks werden zwar zumeist mit Rastafari-Kultur assoziiert, allerdings wurde auch in vielen anderen Kulturkreisen diese Haartracht aus verschiedenen Gründen getragen. Aber auch aus rein ästhetischen Gründen wird man seine Haare doch noch so tragen dürfen, oder etwa nicht?

Das Wort „Aneignung“ bedeutet darüber hinaus, dass man sich etwas zu eigen macht, was einem ursprünglich nicht gehört. Aber wem gehört Kultur? An welche Behörde kann ich mich wenden, um herauszufinden, wessen Eigentum ein bestimmtes Kulturgut ist? Wem „gehören“ Dreadlocks, Bauchtanz oder Sonett? Kann ich irgendwie mit den (demokratisch gewählten?) Vertretern verschiedener Kulturgruppen in Kontakt treten, um ihnen die geschnitzten Masken aus Togo, Kongo und Nepal zurückzugeben, die ich an meine Wand gehängt habe? Ja, darf man solche Gegenstände denn eigentlich überhaupt zum Verkauf anbieten, wenn sie zum kulturellen Erbe einer bestimmten Gruppe zählen?

Ein ahistorischer Begriff

Ein weiteres Problem besteht meines Erachtens darin, dass dieser Begriff eine vollkommen ahistorische kulturelle Rigidität impliziert. Indem die „Aneignung fremden Kulturguts“ als Negativum angeprangert wird, fordert dieses Konzept scheinbar, dass sich kulturelle Gruppen jeglichen Austauschprozessen widersetzen.

Ein Blick in die Geschichte sollte allerdings schon genügen, um festzustellen, dass solche Aneignungs- und Austauschprozesse unvermeidbar sind, wie ich oben schon angedeutet habe. Von der Übertragung altfranzösischer höfischer Literatur ins Mittelhochdeutsche, der Verwendung von chinesischem Porzellan für Kakaoschalen im frühneuzeitlichen kolonialen Mexiko bis hin zur Verschmelzung afrikanischer Rhythmen mit Heavy-Metal-Musik in Botswana – solche Austauschprozesse lassen sich über verschiedenste Bereiche in allen geschichtlichen Epochen und Regionen beobachten.

Schlussgedanken

Es ist mitnichten meine Intention, zu verharmlosen, wie mit dem kulturellen Erbe verschiedener Völker umgegangen wurde und zuweilen noch umgegangen wird. Es genügt, sich einen kurzen Einblick zum Thema „Kunstraum im Kolonialismus“ zu verschaffen – viele Museen in Europa sind bis heute noch mit Kunst oder Ähnlichem aus ehemaligen Kolonien gefüllt, und es wird klar, dass der Umgang mit Kultur bzw. kulturelle Identität noch ernsthafter Diskussion bedarf. Ich finde es jedoch schade, dass die Diskussionen und Kritiken, die ich derzeit vernehme, viel eher dazu tendieren, sich über oberflächliche Harmlosigkeiten aufzuregen und vorschnell Urteile zu fällen, anstatt sich nuanciert mit dem Thema auseinanderzusetzen.

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